Es ist Herbst, die Bäume verlieren ihre Blätter, bald ist alles wieder grau, feucht und kalt. Wir bleiben lieber in unseren Häusern und Wohnungen. Der Alltag deckt uns ein, wie der dichte Nebel, der die Sonnenstrahlen von uns abhält.
So war es auch in einem kleinen Dorf. Die Stimmung war gedrückt, und jedem Bewohner schien es, als leide er am meisten unter der Situation. Schliesslich befragten die Dorfältesten einen Einsiedler in einer nahegelegenen Klause, wie sie aus der allgemeinen Niedergeschlagenheit herauskommen könnten. Der Weise antwortete: „Wenn denn jeder meint, das Schicksal habe ihm die schwerste Last auferlegt, dann soll jeder seine Sorgen und Nöte zu einem Paket schnüren und es an die alte Linde in der Mitte des Dorfes hängen. Er darf sich dafür das Päckchen eines anderen nehmen.“
Wie toll wäre das, wenn wir alles, was uns belastet, was schwierig ist, was uns Sorgen macht, was gerade stresst, einfach in einen Karton packen könnten, ein farbiges Papier drum herum, ein dickes Band, dass das Paket zusammenhält und weg damit, einfach in einen Baum hängen. Für jemand anders ist unser Bürdeli vielleicht leichter zu tragen. Die anderen meinen, dass sie es viel schwerer haben als wir, sollen sie mal schauen, ob es wirklich so ist.
Die Bewohner des Dorfes liessen sich auf den Rat des Weisen ein. Jeder hängte seine Sorgen an den Baum und nahm sich ein anderes Päckchen. Doch wie überrascht waren alle, als sie die fremden Pakete zu Hause öffneten und feststellten, dass die Sorgen darin so viel grösser waren als die eigenen! Und so eilte jeder leise zu dem Baum zurück, hängte das fremde Päckchen an einen Ast, suchte sich sein eigenes und ging zufrieden nach Hause.
Unsere Sorgen erscheinen uns in Anbetracht von den anderen, plötzlich nichtig und klein und sind viel leichter zu tragen. Doch vielleicht steckt auch etwas anderes dahinter. Bevor, wir unser Päckli in den Baum hängen können, müssen wir zuerst alles in einen Karton packen, uns davon lösen, Distanz schaffen und wenn wir es dann aufhängen wollen, dann müssen wir die eigenen vier Wände verlassen, auf die Strasse gehen und so können wir anderen Menschen begegnen, ein paar Worte wechseln. Beim Baum bemerken wir: Ich bin nicht allein, auch andere haben ihr Bürdeli zu tragen. Und dann nehmen wir die Last eines anderen auf uns und auf einmal sehen wir unsere Last in Relation zu den anderen und unsere eigenen Sorgen erscheinen auf einmal leichter und ertragbarer. Also, packen wir unsere Sorgen und hängen sie in den Baum und tragen die Last eines anderen!
Zuerst erschienen im TOP Hiwil Ende Oktober 2021